Wie kommt die Tablette in den kleinen Zeh?

Geschrieben von Barbara Göring am 22. August 2023

Gesundheitstipps

In der Apotheke erhalten Sie Ihre Medikamente oft in Form von Tabletten oder Kapseln. Auch als Sirup, Zäpfchen, Salbe oder Spritze. Sogar als Nagellack oder “Pflaster” kann ein Wirkstoff in den Körper gelangen.

Wie funktioniert das «Navigationssystem» einer Tablette?

Haben Sie sich auch schon gefragt, wie die Tablette “weiss”, dass Sie Kopfschmerzen haben oder wieso Sie gegen Nagelpilz Kapseln schlucken sollen?
Für die Forschung stellt sich die Frage umgekehrt: wie bringt man den Wirkstoff aus der Tablette an den gewünschten Ort Ihres Körpers?

Ein Praxisbeispiel zur Erklärung

Eine Patient*in leidet an Nagelpilz (Onychomykose). Drei ihrer Zehennägel waren gelb und bröckelig. Die Behandlung mit einem Pilzmittel (Antimykotikum) in Form eines Nagellacks hatte bei zwei Fussnägeln geholfen, beim kleinen Zeh jedoch hat sich der Krankheitserreger leider im Nagelbett eingenistet.

Der Arzt verschrieb danach Tabletten. Drei Monate lang soll täglich eine Tablette eingenommen und weiterhin wöchentlich der antimykotische Nagellack angewendet werden. Wenn die Patient*in ansonsten sehr gesund und auch nicht schwanger ist, gibt es keine Gründe, die gegen dieses Medikament sprechen würden (d.h. keine Kontraindikationen).

Das Grundprinzip: wie Medikamente zu ihrem Wirkungsort gelangen

Um den Weg eines Arzneimittels zu verfolgen, ist eine entsprechende Vorstellung von Biologie und Chemie nützlich. Bei grossem Interesse kann Ihnen Literatur oder die KI (künstliche Intelligenz) weiterhelfen.

Lassen Sie uns für heute eine Krankheit als «Bauprojekt» betrachten. Arbeiter und Material müssen auf verschiedenen Wegen zur Baustelle gelangen, Abfall muss abtransportiert werden und auf der Baustelle braucht es Container für die strukturierte Organisation von Mitarbeitenden, Material und Werkzeugen.

Die Krankheit als Baustelle

Die Tablette aus unserem vorgängigen Praxisbeispiel können wir als einen grossen Bus betrachten. Dieser fährt, mit vielen Arbeiter*innen, durch Mund, Rachen und Speiseröhre bis in den Magen. Als Transportmittel wirken in der Realität das Glas Wasser, welches mit der Tablette geschluckt wird sowie die wellenförmigen Bewegungen der Speiseröhre.

Bushaltestelle Magen – alle aussteigen bitte

Im Magen steigen die Arbeiter*innen aus und nehmen zu Fuss den Weg durch den Magenpförtner in Richtung Dünndarm in Angriff. Am Wegesrand gibt es viele Möglichkeiten, in ein Boot aus Plasmaproteinen umzusteigen. Die Reise wird auf dem Blutfluss fortgesetzt. Ein Teil der Moleküle steigt bei der ersten Gelegenheit, am Hafen der Leber, wieder aus und wird nicht bis zu Baustelle mitreisen.

Die lange Reise bis an den Bestimmungsort

Die restlichen Moleküle erreichen nach etwa zwei Stunden die Baustelle am Zehennagel aus dem Praxisbeispiel. (Moleküle sind übrigens kleine chemische Einheiten). Sie beginnen damit, die krankmachenden Pilze zu zerstören. Der Aufbau eines gesunden Nagels wird von den körpereigenen Strukturen erledigt. Allerdings verlassen jeden Tag viele der Terbinafin-Arbeiter*innen den Bauplatz wieder. Da die Patient*in täglich eine Tablette einnimmt, kommen auch täglich weitere Terbinafin-Moleküle an Ihrem Zehennagel an. Es dauert ca. vier Wochen, bis immer gleich viele Moleküle neu ankommen wie weggehen.

Temporäre Unterkünfte für Mitarbeitende

Zudem haben diese Bauarbeiter Unterkünfte in der Nähe der Baustelle, wo sie für eine gewisse Zeit wohnen. Wenn nach drei Monaten die Tablette aus dem Praxisbeispiel abgesetzt wird, dauert es noch ca. zwei Wochen, bis die letzten Arbeiter*innen den Bauplatz am Zehennagel verlassen haben. Die Arbeit wird dann übrigens vom Amorolfin aus dem Nagellack weitergeführt, aber diesen Teil der Geschichte ersparen wir Ihnen.

Wie kommt die Tablette in den kleinen Zeh?

Gerne nehmen wir die Einstiegsfrage des heutigen Blogs nochmals etwas genauer unter die Lupe und erklären Ihnen den Prozess, auch anhand von einigen medizinischen Fachbegriffen, detailliert:

Weg des Wirkstoffes zum Bestimmungsort im Detail

In unserem Praxisbeispiel wird eine Tablette des Antimykotikums (Mittel gegen Pilzinfektionen) eingenommen. Diese wird zusammen mit Wasser durch peristaltischen Bewegungen der Speiseröhre in den Magen befördert und löst sich dort auf. Der Wirkstoff Terbinafin wird freigesetzt und gelangt durch den Magenpförtner (Pylorus) in den Zwölffingerdarm (Duodenum) und weiter in den Dünndarm. Die Terbinafin-Moleküle werden schnell resorbiert (ins Blut aufgenommen) und zu 99% an Plasmaproteine gebunden. Beim ersten Durchgang des Blutes durch die Leber werden allerdings bereits 50 % davon eliminiert. Dies ist der sogenannte First-Pass-Effekt.

Die Leber,

unser Entgiftungsorgan, entfernt ungewöhnliche Substanzen möglichst rasch aus dem Blut. Sowohl die Plasmabindung als auch der First-Pass-Effekt sind sehr wichtige Kennzahlen eines Wirkstoffs. Sobald der im Blut verbleibende Teil der Terbinafin-Moleküle in die Nähe von verhornten Haut- Fuss oder Fingernägeln kommt, wird eine weitere chemische Eigenschaft wichtig: die Lipophilie. Dies ist die Tendenz, sich stärker in einer fetthaltigen Umgebung als in einem wässrigen Millieu anzureichern. Terbinafin ist eine Substanz, die sich zudem stark an Keratin (Hornsubstanz z.B. der Fingernägel) binden kann. Bereits zwei Stunden nachdem die Tablette des Praxisbeispiels geschluckt wurrde, steigt die Terbinafin-Konzentration in den Fingernägeln, in Hornzellen der Haut und im Fettgewebe an. Der Wirkstoff beginnt, Pilzzellen zu zerstören und wird selbst dabei zum Teil zerstört. Die Bruchstücke des Wirkstoffs und auch ein Teil der ganzen Moleküle werden aus dem Blut eliminiert (entfernt). Sie werden von verschieden Enzymsystemen abgebaut und die Abbauprodukte werden über Urin und Kot ausgeschieden. Die sogenannte Halbwertszeit t1/2 (Zeit, innert derer die Plasmakonzentration eines Wirkstoffs nach einmaliger Einnahme auf die Hälfte sinkt) liegt für diesen Wirkstoff bei 8-16 Tagen, nach mehrwöchiger Therapie ist sie deutlich länger.

Bei regelmässiger Einnahme des Medikamentes

stellt sich nach etwa zwei Wochen ein sogenannter Steady-State ein, eine Gleichgewichts-Situation, in der immer gleich viel Substanz aus dem Körper entfernt wird, wie schlussendlich im „Vorratslager“ des Fettgewebes und der Keratin-Zellen gelagert wird. Dies erklärt, wieso der nachwachsende, gesunde Nagel durch eine Art „Einbau“ der Medikamenten-Moleküle vor weiterer Pilzinfektion geschützt wird.

Nicht einfach – aber einfach spannend

Vielleicht ahnen Sie es: Lipophilie, Plasmabindung, die Tendenz, durch gewisse Enzyme des Körpers abgebaut zu werden oder auch die Eigenschaft, bei der ersten Leberpassage aus dem Körper entfernt zu werden sind bei verschiedenen Wirkstoffen unterschiedlich.

Und natürlich ist alles im Detail komplexer, aber sehr spannend und faszinierend. So ist jedes Medikament ein Molekül auf «Dienstreise» – um uns alle wieder gesund zu machen. Geniessen Sie die wunderbaren Spätsommertage und eine begeisternde BADENFAHRT.

Ihr Apotheke Wyss Team

Bewerten